Offener Brief an Katharina Wagner, Bayreuther Festspiele

Am 21. August 2024 wurde ich neben weiteren Kolleginnen und Kollegen im Haus Wahnfried für 20 Jahre Mitwirkung im Bayreuther Festspielchor geehrt – auch Sie saßen dabei applaudierend in der ersten Reihe.

Nach ca. 450 gesungenen Vorstellungen in 24 verschiedenen Inszenierungen wehre ich mich hiermit dagegen, meine ehrliche Arbeit als Sänger und als verantwortungsbewußter Herrenchor Inspizient durch herabwürdigende Darstellungen in der Öffentlichkeit beschädigen zu lassen. Das dürfte auch in Ihrem Sinne sein, da es hierbei um das Ansehen der Bayreuther Festspiele als Ganzes geht.

Ohne Vorankündigung erklärten Sie nur eine Woche nach der Mitwirkendenehrung den Bayreuther Festspielchor gegenüber dem Chorvorstand in seiner bisherigen Zusammensetzung de facto für aufgelöst – direkt im Anschluß an den letzten Schlußapplaus der Festspiele 2024. Deutlicher konnten Sie Ihre Nichtachtung dieses über Jahrzehnte gewachsenen und weltweit anerkannten Ensembles nicht zum Ausdruck bringen.

Und wie eine nachträgliche Rechtfertigung dessen gelangten Informationen über die Arbeit dieses Chores an die Öffentlichkeit, die seine Mitglieder und seinen letzten Chorleiter diskreditierten.

Den Grund für dieses Vorgehen verstehe ich bis heute nicht. Waren wir den Sparvorgaben Ihrer Umstrukturierungspläne nicht gerade durch Reduzierung um 21 auf 113 Chorstellen und durch Gagenverzicht von etwa 1000 € pro Kopf entgegengekommen? Ihr Mitgeschäftsführer, Herr Ulrich Jagels, hatte sich jedenfalls am ersten Arbeitstag ausdrücklich dafür bedankt, daß die anwesenden Chormitglieder unter diesen veränderten Bedingungen dennoch zur Mitwirkung bereit waren. Und ja, auch ich war dazu bis zum letzten Schlußapplaus bereit und wäre es wie vermutlich die meisten Chormitglieder auch unter dem neuen Chorleiter, Herrn Eitler-de Lint, gewesen.

Seinen Namen erfuhren wir am 24. August durch den Chorvorstand. Er selbst aber durfte sich dem Chor, den er stolz war übernehmen zu können (1), weder vorstellen, noch konnte er sich einen Eindruck von dessen aktuellem „Jetztzustand“ machen (2)(3), weil die Festspielleitung dies für „atmosphärisch extrem problematisch“ und gegenüber dem scheidenden Chorleiter Eberhard Friedrich für „stillos“ hielt (6).

Um wieviel besser und würdevoller für alle Beteiligten hätte dieser Chorleiterwechsel aber mit einer persönlichen Ansprache an den bestehenden Festspielchor vonstatten gehen können? Statt dessen riskierten Sie, daß ein verunsicherter Chor die letzten Vorstellungen nicht in gewohnter Qualität über die Bühne bringt.

Daß diese Festspiele unsrerseits professionell beendet wurden, haben Sie nicht zuletzt Eberhard Friedrich zu verdanken.

Ich kann nur vermuten, daß Ihnen nicht bewußt ist, was es bedeutete, als fest engagierter Opernchorsänger, in meinem Fall am Theater Freiburg, einer Einladung zu den Bayreuther Festspielen zu folgen. Der weiterlaufende Spielbetrieb mußte finanziell und personell abgesichert sein, was ca. drei Wochen Lohnverzicht und die Abstimmung über die selbst oder durch einen geeigneten Ersatz sicherzustellenden Vorstellungen beinhaltete.

Das durch jährlich bis zu drei von den Festspielen gewährte Dispense und weitere in Bayreuth dienstfreie Tage möglich werdende Pendeln zu Vorstellungen nach Freiburg bedeutete jeweils ca. 900 km Autobahnfahrt. Die Rückwege nach Bayreuth waren stets Nachtfahrten, um am nächsten Morgen wieder rechtzeitig am Grünen Hügel zu sein.

Aber das war es mir wert, um im Bayreuther Festspielchor singen zu können – für mich der „Olymp unter den Opernchören“! Und ich erwähne das an dieser Stelle, damit Sie nachvollziehen können, warum ich folgenden über die Arbeit dieses Chores verbreiteten Äußerungen widersprechen muß – gerade auch aus meiner Sicht als Herrenchor-Inspizient:

Schon 2023 wurden Sie damit zitiert, daß der Festspielchor nur „13 von 30 Spieltage im Einsatz“ (4) sei, 2025 ist gar nur noch von „10 Vorstellungen in 70 Tagen“ (5) die Rede.

Die Spielpläne der Jahre 2002 - 24 belegen aber, daß der Chor niemals weniger als die 2022 noch unter Nachwirkung der Coronapandemie absolvierten 18 Vorstellungen gesungen hat. Selbst unter den strikten Coronamaßnahmen des Jahres 2021 (bei 69 singenden und 69 stumm agierenden Mitgliedern) waren es 19 Vorstellungen, was den in Festspieljahren mit „Ring“ üblichen zumeist 20 Vorstellungen entspricht. 2023 gab es 22 Vorstellungen mit Chor.

Da es nur in „Rheingold“, „Walküre“ und „Siegfried“ keine Chorpartie gibt, stand in Jahren mit den üblicherweise drei Ring-Zyklen lediglich an 9 Abenden kein Chor auf der Bühne. In den Jahren ohne „Ring“ waren es jeweils 29 oder 30, 2019 sogar 32 Aufführungen mit Chor.

Angesichts der jeweils im Festspielzeitraum (25.07. - 28.08.) geleisteten Vorstellungen und unter Berücksichtigung des Bayreuther Repertoires sollte sich eine Bemerkung wie jene in der Süddeutschen Zeitung, wonach „die Chormitglieder viel spazieren (gehen)“ (2) eigentlich verbieten.

Auf BR-Klassik.de stand zu lesen, daß „Choristen innerhalb von 70 Tagen nur an ca. 40 Tagen zum Einsatz kamen“, bzw. daß es „nicht mehr vermittelbar (ist), den Chor mit Steuergeldern 70 Tage zu bezahlen, wenn er nur 40 gebraucht wird“ (3)(6).

Abgesehen davon, daß die Disposition der Proben und Vorstellungen in Ihrer Verantwortung liegt und eine insgesamt kürzere Vertragslaufzeit sicher planbar wäre, sind auch die gesetzliche Vorgabe von mindestens einem freien Tag pro Woche und die festspielinterne Regelung zu erfüllen, wonach niemand im Chor mehr als 50 Tage eingesetzt werden darf. Um diese Grenze nicht zu überschreiten, wurde in Festspieljahren ohne „Ring“ der Herrenchor um bis zu 19 Personen aufgestockt, damit es möglich wurde, jeden nur in vier der angesetzten fünf Choropern auftreten zu lassen. Im Bedarfsfall hatte ich als Inspizient die Aufgabe, den betreffenden Kollegen Anweisungen zu zusätzlichen dienstfreien Tagen zu übergeben.

20 freie Tage waren während des Engagements in Bayreuth gesetzt. Was sich darüber hinaus ergab, lag in Ihrer planerischen Verantwortung, wobei berücksichtigt werden muß, daß das Bayreuther Pensum auch an freien Tagen eine häusliche Vorbereitung und Stimmpflege erfordert.

Für die Zukunft planen Sie einen Festspielchor mit 100 Mitgliedern und zuzüglich 34 Sonderchormitglieder für ausgewählte Chorpartien.

In den letzten Jahrzehnten hatte der Festspielchor nur ausnahmsweise weniger als 134 Mitglieder, was leicht nachprüfbar und daher sicher unstrittig ist. In den Jahren ohne „Ring“ lag die Anzahl bei 148 oder auch mal bei 149. Abweichend davon war der Festspielchor 2021 wegen der Corona-Pandemie in zwei Chöre zu je 69 Mitgliedern aufgeteilt, 2022 waren es pandemiebedingt 100 Mitglieder. Nach 134 Chormitgliedern 2023 waren es 2024 nur 113, im 2. und 3. Akt „Tannhäuser“ zusätzlich 7 Damen und 1 Bariton.

Da jüngst zu lesen war, daß „die 134 Mitwirkenden auch in den vergangenen Jahren nur an ausgewählten Stellen, z.B. im dritten Akt „Meistersinger“ oder im „Lohengrin“ gebraucht“ (6) wurden, und an anderer Stelle, daß „überall dort, wo bisher 134 Sänger besetzt gewesen seien, deren Zahl auch künftig nicht angetastet werde“ (3), möchte ich darauf hinweisen, daß bisher in „Tannhäuser“, „Parsifal“ , „Holländer“, „Lohengrin“ und „Meistersinger“ immer 134 Festspielchormitglieder beschäftigt gewesen sind.

Was den Sonderchor betrifft, bestand dieser für die Festwiese der „Meistersinger“ 2002 (Inszenierung W. Wagner) noch aus 80, 2007 (K. Wagner) aus 40 und zuletzt 2011 (K. Wagner) aus 34 Damen und Herren. Im „Holländer“ kamen zuletzt 2003-2006 (K. Guth) 24 Herren im Geisterchor zum Einsatz.

Diese Sonderchormitglieder wurden immer zusätzlich zum Festspielchor engagiert! Seit dieser Sonderchor 2011 zu existieren aufhörte, sang ausschließlich der Festspielchor, was de facto eine bereits vollzogene Verkleinerung des Chores im 3. Akt „Holländer“ und auf der Festwiese ist.

Eberhard Friedrich leitete den Bayreuther Festspielchor seit 2000. In der Süddeutschen Zeitung konnte man lesen, daß es unter seiner Leitung keine Vorsingen gegeben habe, sondern eher „freundschaftsbasierte Wiedereinladungen“ und „Klüngeleien“, die langfristig der Qualität des Chores abträglich wären (2). Ich kenne niemanden, der ohne Vorsingen Mitglied dieses Chores werden konnte! Und natürlich gab es erneute Vorsingen, wenn man nach längerer Abwesenheit (i.d.R. nach zwei Jahren) wieder im Festspielchor singen wollte. Der großartig gebaute Chorsaal der Bayreuther Festspiele erlaubt es dem Chorleiter zudem, qualitätsgefährdende Tendenzen auch individuell zuordnen und mit gesonderten Vorsingen, seltener mit Stimmgruppenumbesetzungen, aber eben auch mit Nichtwiedereinladungen darauf reagieren zu können.

Nicht zuletzt wurden pro Jahr ca. 10 bis 20 neue Chormitglieder aufgenommen, die ebenfalls Vorsingen absolviert hatten.

Daß unter dieser quasi permanenten Qualitätskontrolle speziell die Männerstimmen derart abgebaut hätten, daß man sie „bei Übertragungen … immer (habe) hochziehen müssen, weil sie im Vergleich zu den Damen deutlich zu leise waren“ (2), ist schwer vorstellbar und steht durchaus auch im Widerspruch zur Aussage des Dirigenten Pablo Heras-Casado („Parsifal“ 2023, 2024), der auf Nachfrage der Festspielleitung kein Problem mit fehlender Lautstärke der Chorherren hatte, statt dessen aber darauf verwies, daß „sogar leiser“ gesungen werden solle (6).

Überhaupt war die dynamische Bandbreite eine der Stärken des bisherigen Festspielchores – natürlich kann ein solch großer Chor sehr laut, aber eben auch traumhaft leise singen. Beides in der für den Bayreuther Chorklang gewohnten Homogenität zu erreichen, dürfte schwieriger werden, wenn der Chor kleiner wird – das war 2021 bei 69 singenden Chormitgliedern und in den mehrchörigen Chorpartien auch bei den 100 Chormitgliedern 2022 bereits zu hören.

Bei alledem ist aber völlig klar, daß auch die Sängerinnen und Sänger der Bayreuther Festspiele nicht vom Himmel fallen. Der Chorleiter hat die Aufgabe, aus den verfügbaren Chormitgliedern mit all ihren Stärken und Schwächen in wenigen Probentagen ein homogenes Ganzes zu formen.

Wenn Ihnen, Frau Prof. Wagner, die Qualität des Festspielchores nicht mehr ausgereicht hat, warum sind Sie als Festspielleiterin niemals an den Chor herangetreten, um Ihre Unzufriedenheit zu äußern? Auch kein Dirigent und keine Dirigentin hat jemals über den normalen Probenprozess hinaus eine mangelnde Leistungsfähigkeit des Festspielchores beklagt – im Gegenteil: immer wieder kamen Dirigenten und auch Regisseure in den Chorsaal, um für die besondere Zusammenarbeit zu danken.

Bisher galt die Mitgliedschaft im Bayreuther Festspielchor mindestens als eine Art Qualifikationsnachweis für eine mustergültige Einstudierung der Chorpartien Richard Wagners, weswegen man als Chorgast auch an anderen Opernhäusern willkommen war.

Nun demütigen Sie die Mitglieder dieses Chores und seinen letzten Chorleiter mit der demonstrativen Auflösung und diskreditieren deren zuverlässige, engagierte und durchaus auch aufopferungsvolle Arbeit am Werk Ihres Urgroßvaters! Schadet das nicht in Inhalt und Form dem Ruf der von Ihnen zu verantwortenden Festspiele?

Und wäre es zudem nicht auch besser und zeitgemäßer gewesen, die Notwendigkeit der von Ihnen geplanten einschneidenden Umstrukturierungsmaßnahmen einmal im Chorsaal zu erläutern, bevor Sie den Chor komplett infrage stellen?

Die bisherigen Festspielchormitglieder haben alle freiwillig in Bayreuth gearbeitet, hatten allergrößtes Interesse am erfolgreichen Fortbestand ihres Chores und waren stets eine zuverlässige Säule der Bayreuther Festspiele – statt darauf aufzubauen, haben Sie dieses einzigartige Ensemble zerstört.

 

  1. „Das ist der neue Chordirektor“, Nordbayerischer Kurier, 24. 08. 2024
    https://www.kurier.de/inhalt.bayreuther-festspiele-das-ist-der-neue-chordirektor.3596712a-d031-469b-a2c6-4e135f93121c.html
  2. „Weniger, aber besser“, Süddeutsche Zeitung, 19. 09. 2024
    https://www.sueddeutsche.de/kultur/bayreuther-festspielchor-thomas-eitler-de-lint-bayreuther-festspiele-lux.VTCyvBcEcQb8JzpPNTi5Db?reduced=true
  3. „Chor fürchtet massive Qualitätseinbußen“, BR-Klassik.de, 18. 02. 2025
    https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/bayreuther-festspiele-chor-fuerchtet-qualitaetseinbusse-100.html
  4. „Fazit“, Deutschlandfunk Kultur, 24. 11. 2023, (ab Minute 14:00 des Beitrags)
    https://www.deutschlandfunkkultur.de/fazit-die-komplette-sendung-dlf-kultur-d89c4a71-100.html
  5. „Kulturleben“, Bayern 2, 06. 02. 2025, 14.04 Uhr
    https://www.ardaudiothek.de/episode/kultur-update/wer-braucht-heute-noch-zuspitzung-der-kabarettist-claus-von-wagner-und-sein-projekt-equlibrium/bayern-2/14154863/
  6. „Chorverband fürchtet um Niveau“, BR-Klassik.de, 06. 02. 2025
    https://www.br-klassik.de/aktuell/news-kritik/bayreuther-festspiele-chor-verband-fuerchtet-niveau-verlust-100.html

     

 

Freiburg im Breisgau, 15. März 2025

Jörg Golombek(Mitglied des Bayreuther Festspielchores zwischen 2002 und 2024)